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Ordnungsstiftende Ansätze in die Straßensozialarbeit integrieren?! Positionspapier der LAG Straßensozialarbeit


Sachstandsschilderung


Die LandesArbeitsGemeinschaft Straßensozialarbeit (LAG) ist ein Interessenzusammenschluss kommunaler und freier Träger der Straßensozialarbeit in Hamburg. Mit diesem Positionspapier möchte die LAG sich gegenüber ordnungspolitischen Vereinnahmungen der Straßensozialarbeit am Beispiel der sogenannten „Sozialraumläufer“ positionieren. Ausgangspunkt hierfür ist die von der Sozialbehörde in ihrem Bericht gegenüber dem Sozialausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft formulierte Haltung, dass „ordnungsstiftende Ansätze“ bzw. eine „regelbasierte Ansprache“1 in der Konzeption von Straßensozialarbeit zu integrieren sind.


Die Stadt Hamburg forciert spätestens seit der Berichterstattung über den Hamburger Hauptbahnhof als gefährlichsten Hauptbahnhof Deutschlands einen verstärkt ordnungspolitischen Umgang mit obdachlosen und suchtkranken Menschen im Bereich der Innenstadt. Diese Personengruppen werden vermehrt durch Polizei und Sicherheitsdienste angesprochen und aus dem Bereich der Innenstadt verdrängt. Diese Maßnahmen waren zunächst vor allem durch die Innenbehörde getragen. Die Sozialbehörde hat im März 2024 zusätzlich zu den bestehenden ordnungspolitischen Maßnahmen Mittel bereitgestellt, um am Hauptbahnhof das Konzept der „Sozialraumläufer“ zu erproben. (2) Die Behörde beauftragte einen privaten Sicherheitsdienst mit der Aufgabe im Bereich zwischen Drob Inn und Hauptbahnhof Menschen „regelbasiert“ anzusprechen. Konkret bedeutet das, dass Mitarbeitende eines Sicherheitsdienstes Menschen, die sich in dem Bereich aufhalten, auf Regeln im öffentlichen Raum und auf Angebote der Sucht und Wohnungslosenhilfe hinweisen. Der Sicherheitsdienst ist täglich von 06:00-22:00 Uhr zu dritt unterwegs und ist mit roten Westen ausgestattet, auf denen der Slogan „Sicher, sozial, vor Ort“ abgedruckt ist. Für die Qualifizierung als Mitarbeiterinnen des Sicherheitsdienstes genügt eine abgelegte Sachkundeprüfung im Überwachungsgewerbe. (3) Zusätzlich sollen sie nach Angaben der Sozialbehörde eine einjährige Berufserfahrung im Kontext Drogen, Sucht und Obdachlosigkeit, eine zertifizierte Basisschulung nach ProDeMa und Qualifikationen als Ersthelferinnen bzw. als Brandschutz- und Evakuierungshelferinnen mitbringen. Zudem sollen die Mitarbeitenden an einer zweitägigen Schulung teilgenommen haben, die sich mit der Lebenswelt von obdach- und wohnungslosen sowie drogenkonsumierenden Menschen auseinandersetzt, sowie einen Überblick über das Hilfesystem geben soll und auch den besonderen Schutzbedarf von Frauen und queeren Menschen beinhaltet. Laut Stellenanzeige von proSicherheit GmbH werden diese zusätzlichen Qualifikationen für eine Einstellung nicht gefordert. Auch eine Fortbildung oder gar abgeschlossene Ausbildungen im psycho-sozialen Bereich ist laut Stellenausschreibung keine Voraussetzung für eine Einstellung.

Für den Einsatz des Sicherheitsdienstes stellt die Behörde 740.000 € über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren bereit. Im Vergleich sind das rund 10% des Budgets, das laut Haushaltsplan 2024 (4) für die Basisversorgung von Obdachlosen und von Obdachlosigkeit bedrohten Menschen zur Verfügung steht. Dies umfasste im Jahr 2024 rund 5,188 Mio. Euro. Hiervon wird neben den Tagesaufenthaltsstätten auch die Straßensozialarbeit, die von kommunalen und freien Trägern durchgeführt wird, finanziert. Neben den Zuwendungen sind auch Spendenmittel ein wichtiger Bestandteil der Finanzierung – sowohl für Personalkosten wie auch zur Finanzierung von direkten Hilfen.(5)

Bereits nach sieben Wochen des Einsatzes zog die Sozialbehörde ein erstes positives Ergebnis der Arbeit des Sicherheitsdienstes. Mehrere Medien, u.a. das Hamburger Abendblatt, TAZ und NDR, berichteten am 25.04.2024, der Sicherheitsdienst hätte bereits etwa 1000 Hilfestellungen protokolliert, Stand 30.05.2024 seien es bereits 1899 gewesen. Welche Formen der Hilfestellungen erfolgt sind, wird weder in den Drucksachen noch in der Berichterstattung ausdifferenziert. Entlang der Aussagen der Mitarbeiterinnen des Sicherheitsdienstes sowie der Berichte obdachloser Personen handelt sich bei den Hilfestellungen vorrangig um den Verweis auf einen erwünschten Aufenthalt im Bereich des Drob Inn statt am Hauptbahnhof sowie umliegenden Gebieten wie St. Georg. Nachhaltige Hilfestellungen wie Vermittlungen an Soziale Beratungsstellen oder Unterkünfte finden scheinbar nicht statt.

Entgegen allen fachlichen Standards der Straßensozialarbeit hat sich die bezirkliche Koordinierungsstelle Obdachlosigkeit und Straßensozialarbeit Innenstadt vor kurzem für eine Zusammenarbeit mit dem Sicherheitsdienst entschieden. Warum dieses Vorgehen nicht den fachlichen Standards der Straßensozialarbeit entspricht und warum die LAG die Zusammenarbeit ablehnt und sich sowohl gegen den Einsatz des Sicherheitsdienstes als auch eine Kooperation zwischen Straßensozialarbeit und Sicherheitsdienst ausspricht, wird im Folgenden näher erläutert.

Standards der Straßensozialarbeit

Für die Straßensozialarbeit benötigt es Standards, welche Bundesweit durch Expertinnen, die in der Bundearbeitsgemeinschaft (BAG) Streetwork/ Mobile Jugendarbeit e.V. organisiert sind, erarbeitet wurden. Außerdem haben wir als Vertreterinnen der Straßensozialarbeit in Hamburg eigene Standards in Anlehnung an die bundesweit geltenden erarbeitet. Um die Straßensozialarbeit von der Arbeit der Mitarbeiterinnen des Sicherheitsdienstes abzugrenzen, fassen wir im Folgenden einige wichtige Standards zusammen (vgl. BAG7):

  1. Wir arbeiten nach dem Prinzip der Freiwilligkeit, bei dem die Kontaktaufnahme, die Dauer und die Intensität des Kontakts von den Adressat*innen selbst entschieden wird. Dabei unterbreitet Straßensozialarbeit wiederkehrend Kontaktangebote (vgl. ebd., S. 6).

2. „Verschwiegenheit, Transparenz und Interesse am Gegenüber sind im vertrauensvollen Umgang mit den Adressatinnen unverzichtbar“ (ebd., S. 7). Die Adressatinnen können auf Wunsch anonym beraten werden.

3. Straßensozialarbeit benötigt ein professionelles Rollenverständnis und grenzt sich von einer sicherheits- und ordnungspolitischen Instrumentalisierung ab. Für Adressatinnen muss immer deutlich erkennbar sein, dass es sich um Sozialarbeiterinnen handelt (vgl. ebd., S. 8).

4. Es braucht eine qualifizierte Einarbeitung in ein sehr komplexes Arbeitsfeld in dem die Mitarbeiter*innen Ansprechpersonen für jegliche Anliegen sind. Grundlage hierfür ist eine Ausbildung mit einem (sozial)pädagogischen Hochschulabschluss (vgl. ebd., S. 11 f).

5. Straßensozialarbeit agiert parteilich für Ihre Adressatinnen. Parteilichkeit meint eine konsequente Einmischung für „soziale Gerechtigkeit und gegen die Marginalisierung und Segregation des Adressatinnenkreises“ (ebd., S. 7).


Straßensozialarbeitende sind zu Gast im Alltag ihrer Adressatinnen und darauf angewiesen, dass diese Menschen Vertrauen in sie haben. Dieses Vertrauen ist unverzichtbar für die nachhaltige Annahme von Angeboten und die Vermittlung in weitere Hilfen. Wenn Adressatinnen den Eindruck haben, dass Straßensozialarbeit nicht nur in Ihrem Sinne oder entlang ihrer Bedürfnisse tätig wird, verspielt sie den entgegengebrachten Vertrauensvorschuss und ist handlungsunfähig (vgl. Ansen 2024, 30). Hier entstehen die konkreten Aufträge von Straßensozialarbeit: In der Mandatierung durch ihre Adressatinnen.

Straßensozialarbeit ist daher in erster Linie einer Parteilichkeit gegenüber ihren Adressatinnen verpflichtet. Sie muss die Perspektive der Menschen, mit denen sie arbeitet, in die Fachgremien einbringen, solange diese es nicht selbstständig tun können. Obdachlose Menschen haben keine Lobby und keine ausreichende politische Vertretung, daher betonen wir ihre Perspektiven und Bedürfnisse mit Nachdruck und prioritär. Die Arbeitsaufträge anderer Akteurinnen (bspw. von Polizei, Ordnungsamt oder Wachdiensten) stehen dagegen für die Straßensozialarbeit nicht im Fokus – diese Perspektiven werden von anderen Akteurinnen eingebracht und vertreten.


Das Ziel der Straßensozialarbeit, Hilfen zur Beendigung der Obdachlosigkeit bereitzustellen, ist nur durch das Alleinstellungsmerkmal der Parteilichkeit mit den obdachlosen Menschen umzusetzen. Dabei gilt es, entlang dem gewonnenen Vertrauen zu obdachlosen Menschen zielgerichtete Hilfen anzubieten. Zudem versteht sich Straßensozialarbeit durch die gesammelten individuellen und kollektiven Erfahrungen der Lebenslagen und Alltagsbewältigung ihrer Adressatinnen als beratende Instanz für Politik und Verwaltung, sodass die soziale Hilfelandschaft entlang der Bedarfe und Bedürfnisse der Menschen weiterentwickelt werden kann.

Berücksichtigt man dies muss man sich fragen, wer noch als Vertrauens- und Hilfsperson für obdachlose Menschen ansprechbar wäre, wenn sich auch die (Straßen-)Sozialarbeit den ordnungspolitischen Intentionen, Aufträgen und Praxen anschließt?

Ableitungen und Forderungen der LAG

Anhand dieses kurzen Problemaufrisses und der Darstellung der Standards der Straßensozialarbeit wird deutlich, dass Straßensozialarbeiterinnen auf das Vertrauen ihrer Adressatinnen angewiesen sind, um zielführend mit ihnen arbeiten zu können. Sie haben dagegen nicht den Auftrag, Regeln im öffentlichen Raum durchzusetzen. Zur Durchsetzung von Gesetzen und Regeln gibt es Ordnungsbehörden wie Polizei und Ordnungsamt.

Wir erwarten von Politik und Behörden eine Beachtung des fachlichen Auftrags Sozialer Arbeit zur Verpflichtung auf Parteilichkeit mit ihren Adressatinnen. Das schließt engere Kooperationen mit Ordnungsbehörden und Sicherheitsdiensten aus, da sich die gesellschaftlichen Aufträge unterscheiden. Eine gemeinsame Arbeit mit ordnungsstiftenden Sicherheitsfirmen ist daher nicht mit den fachlichen Standards der Straßensozialarbeit vereinbar und wird von uns abgelehnt. Wir sehen einen Einsatz einer Securityfirma auch nicht als notwendige Unterstützung für unsere vertrauensvolle Arbeit. Aus diesem Grund positioniert sich die LAG auch deutlich gegen die Zusammenarbeit der bezirklichen Koordinierungsstelle Obdachlosigkeit und der Straßensozialarbeit Innenstadt mit dem Sicherheitsdienst. Es ist aus fachlicher Sicht dringend erforderlich, dass die unterschiedlichen Arbeitsaufträge von Sozialer Arbeit und Ordnungsbehörden getrennt voneinander betrachtet und umgesetzt werden.

Straßensozialarbeit bietet über niedrigschwellige Kontakte Beziehungen an und knüpft Arbeitsbündnisse mit ihren Adressatinnen. Ziel dieser Zusammenarbeit ist die Verbesserung der Lebenssituationen der Adressatinnen. Hier sind häufig keine kurzfristigen Erfolge oder Hilfestellungen möglich. Nachhaltige Hilfeerbringung benötigt ausreichend Zeit und Ressourcen und ein breites fachliches Wissen, um Betroffene umfänglich beraten zu können. Zur Tätigkeit des eingesetzten Sicherheitsdienstes berichten obdachlose Personen, die bei der Straßensozialarbeit angebunden sind, dass die Mitarbeiterinnen keinen Überblick über das Hilfesystem hätten und das Angebot konzentriere sich auf Verweise in bereits bekannte Angebote des Hilfesystems. Unsere Adressatinnen äußern sich teils frustriert über den unfreiwilligen Kontakt in ihrer Lebenswelt und der ständigen Präsenz an den Orten, an denen sie sich tagsüber aufhalten. Damit bestätigt sich in der Umsetzung der ordnungspolitische Auftrag – eine Aufstockung und Ausweitung sozialer Hilfen vor Ort, z.B. in Form von Straßensozialarbeit, bleibt weiter ausstehend. Die Überwindung sozialer Problemlagen ist somit nicht das Ziel dieser Maßnahme.

Wir finden es problematisch, dass die Sozialbehörde Mittel bereitstellt, um mit einem Sicherheitsdienst in sozialer Tarnung (siehe Stellenbeschreibung) ordnungspolitisch zu wirken, während Straßensozialarbeit vielfach auf das Engagement der Zivilgesellschaft angewiesen ist, um Stellen zu refinanzieren oder direkte Hilfen, wie Fahrkarten, Ausweisdokumente, Hotelunterbringung im akuten Notfall oder einen warmen Kaffee bezahlen zu können. Weshalb die Sozialbehörde bei sich den Auftrag sieht, ordnungspolitisch zu wirken und damit den Bezirken und der Innenbehörde Konkurrenz zu machen, die tatsächlich dafür beauftragt sind, bleibt für uns fraglich. Die Sozialbehörde sollte die Mittel, die sie jetzt in Sicherheitsdienste steckt, daher besser in eine gut aufgestellte Straßensozialarbeit und in nachhaltige soziale Hilfen investieren, um soziale Probleme auch mit sozialpolitischen Antworten zu adressieren. Die Erwartung der Straßensozialarbeit an die Sozialpolitik sowie Sozialbehörde ist die Solidarisierung mit den von Obdachlosigkeit betroffenen Personen, wobei es sich um „eine der schwersten Formen von Armut, die durch ein Zusammenspiel struktureller, institutioneller und persönlicher Faktoren verursacht wird“ (Europäisches Parlament 2020), handelt. Eine Ausweitung ordnungspolitischer Maßnahmen steht dem europäischen Auftrag, „Obdachlosigkeit entkriminalisieren und gleichberechtigten Zugang zu öffentlichen Diensten wie Gesundheitsversorgung, Bildung und Sozialleistungen [zu] gewähren“ (ebd.) entgegen und wird der nachgewiesenen Zunahme der Obdachlosigkeit nicht entgegenwirken.

Die Sozialbehörde hat gemeinsam mit verschiedenen Trägern der Straßensozialarbeit in Arbeitsgruppen an der Weiterentwicklung der Straßensozialarbeit gewirkt. Wir freuen uns auf eine Fortsetzung der gemeinsamen Arbeit, um gemeinsam die Lebenslagen der Menschen auf der Straße zu verbessern und Wege aus der Wohnungsnot aufzeigen zu können.

Hamburg, September 2024

Stellungname als PDF zum runterladen

1. Bürgerschaftsdrucksache 22/15545, S. 8
2. Wir werden in der Folge die „Sozialraumläufer“ als Mitarbeiter*innen eines Sicherheitsdienstes bezeichnen.
3. https://prosicherheit.softgarden.io/job/43244159/Sozialrauml%C3%A4ufer-in-Hamburg-m-w-d-?l=de, Abruf am 30.08.2024. 4. https://www.hamburg.de/resource/blob/203776/05364d919f988b92e5ef09c8d5911170/4-0-data.pdf, Abruf am 30.08.2024.
5. https://www.hamburg.de/resource/blob/255182/fee7eb1eb5a77f31800212267c6906b8/2023-06-14-erhebunggiss-data.pdf, Abruf am 26.08.2024.
6. Bürgerschaftsdrucksache 22/15367
7. https://irp-cdn.multiscreensite.com/5c840bc2/files/uploaded/Fachstandards_BAG_2018_final.pdf, Abruf
30.08.2023. 8. Ansen, H. (2024). Gespräche führen in der Sozialen Arbeit: Kommunikation wirksam gestalten. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 9. https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20201120IPR92124/eu-soll-obdachlosigkeit-bis-2030-beseitigen, Abruf am 30.08.

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