Gemeinsame Stellungnahme der Hamburger Interessenvertretung Offene Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien (IVOA), der Fachgruppe Sozial-, Kinder- und Jugendhilfe ver.di Hamburg und des Verbands Kinder- und Jugendarbeit Hamburg e.V. als Fachverband für die Offene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
Vorbemerkung:
Seit mittlerweile bald einem Jahr Corona-Pandemie arbeiten auch die Fachkräfte der Offenen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien größtenteils vor Ort. In bewährter fachlich kompetenter und überaus flexibler Weise haben sie sich in den vielfältigen Einrichtungen des Arbeitsfeldes aufgestellt, um mit ihren Adressatinnen Fragen, Sorgen, (Existenz-)Ängste und Auswirkungen von „Corona“ zu bewältigen. Gerade die Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit bieten insbesondere Jugendlichen einen letzten (Frei-)Raum und bei Bedarf niedrigschwellige Hilfe durch zum Teil langjährig vertraute fachliche Bezugspersonen.
Nach wie vor werden insbesondere Jugendliche nur als Schülerinnen oder als Auszubildende adressiert, während sie seit bald einem Jahr nahezu alles, was ihren Bedürfnissen entspricht, den Corona-Maßnahmen „opfern“: sich ausprobieren, an selbstbestimmten Erfahrungen wachsen, z.B. durch Teilnahme an internationalen Austauschprogrammen, Schulabschlussfeiern, gemeinsamem Einsatz für Klimaschutz und vieles mehr. Stattdessen sollen sie in Vereinzelung schulische Leistung erbringen, dem Wettbewerb um Bestnoten standhalten, also den Erwartungen der Leistungsgesellschaft und dem Druck wirtschaftlicher Verwertbarkeit nachkommen. Gerade für Kinder und Jugendliche, die strukturell benachteiligt werden, in Armut und beengten Verhältnissen aufwachsen, bedeuten die Corona-Zeiten ein Mehr an Belastung, was sie als Schwächste in der Gesellschaft, so gut sie es können, aushalten müssen.
Weitgehend unbemerkt von der öffentlichen Wahrnehmung, leisten die Fachkräfte der OKJA, der JSA, der Familienförderung und der sozialräumlichen Angebote ihre Arbeit mit vollem Einsatz, auch vor Ort. Sie arbeiten, auch professionsethisch begründet, direkt mit den Kindern, Jugendlichen und ihren Familien nach § 25 der Hamburgischen-SARS-CoVEindämmungsverordnung weiter – auch in Zeiten gravierend steigender „Fallzahlen“ und damit verbundener Sorge um die (eigene) Gesundheit. Dieser wichtigen Arbeit erweisen der Hamburger Senat und die zugeordneten Behörden kaum öffentliche Anerkennung. Im Gegenteil: prekäre (Unter-)Finanzierung und personelle Unterbesetzung in Verbindung mit hohem Leistungsanspruch an die betroffenen Fachkräfte werden auch 2021 fortgesetzt.
Anstatt die skizzierten Belange der Adressatinnen und auch der Fachkräfte Sozialer Arbeit mit vereinten Kräften, z.B. in Fachveranstaltungen anzugehen, verantworten der Hamburger Senat und die zuständige Senatorin eine Online-Fachveranstaltung mit dem Titel „Linke Militanz – Bedarfe und Möglichkeiten der OKJA“. Diese hat die zuständige Sozialbehörde in Zusammenarbeit mit der Bundesfachstelle Linke Militanz für den 3. Februar 2021 terminiert.
Konzipiert worden ist diese Veranstaltung in Zeiten rechten Terrors – in Zeiten, in denen viele junge Menschen vermehrt rassistischen, diskriminierenden Übergriffen ausgesetzt sind, auch weil sich die Grenzen des Sagbaren immer mehr nach rechts verschieben.
Zu Recht „[laufen] Jugendhilfe-Träger Sturm“1, wie die taz am 29.01.2021 titelte. In einer detaillierten Stellungnahme begründet die IVOA fachlich und auf Grundlage pädagogischer Standards des Arbeitsfeldes ihre Ablehnung.2 Sie erhält dabei eine breite Unterstützung von Trägern, Vereinen bis hin zum FC St. Pauli sowie Einzelpersonen u.a. aus Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit. Auch das Hamburger Bündnis gegen Rechts, die Fachgruppe Sozial-, Kinder-, und Jugendhilfe ver.di Hamburg und Bildung am Millerntor (BAM!/FC St. Pauli- Museum)3 solidarisieren sich in ihren Stellungnahmen mit dem fachlichen Anliegen der IVOA.
Reaktion der ausführenden Sozialbehörde: Ausladung kritischer und fachlich interessierter Stimmen
Die Sozialbehörde war der taz gegenüber nach Veröffentlichung der Positionierungen vom Hamburger Bündnis gegen Rechts und der IVOA nicht bereit zu einer Stellungnahme4.
Die IVOA erhält zudem keinen Raum während der Online-Fachveranstaltung, um ihre Stellungnahme ggf. auch nur auszugsweise den Teilnehmenden und Veranstaltenden zu unterbreiten. Der betreffenden Person wurde Freitagmittag (29.01.2021) telefonisch dann deutlich gemacht, dass sie darüber hinaus nicht als Vertreterin für die IV0A teilnehmen dürfe, sondern ausschließlich als Vertreterin ihres Trägers. Wolle sie für den Träger teilnehmen, müsse sie sich bis zum Abend entscheiden. Ebenso telefonisch ausgeladen wurde auch die Person, die für die Fachgruppe Sozial-, Kinder- und Jugendhilfe ver.di Hamburg teilnehmen wollte. Hier lautete die Begründung, dass kein Raum für Grundsatzdiskussionen sei. Auch ihr wurde eine Teilnahme nur in ihrer beruflichen Funktion gestattet. Vermutlich betrifft diese Ausladung nicht nur diese beiden Vertreterinnen.
Auch interessierten Fachpersonen aus der Wissenschaft wurde die Teilnahme nicht gestattet bzw. eine Ausladung übermittelt. Die schriftliche Begründung, die mittlerweile auch der ver.di Fachgruppe zuging, lautete, dass die Veranstaltung sich ausschließlich an Hamburger Fachkräfte aus der Offenen Kinder- und Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit richte und ein gemeinsamer Austausch in einem vertrauensvollen Raum stattfinden solle.
Die IVOA, die ver.di Fachgruppe und der Verband Kinder- und Jugendarbeit sind erschüttert und irritiert über diese Form des Umgangs mit kritisch-fachlichen Positionen und fragen sich und den Hamburger Senat, welches Verständnis von demokratischer Auseinandersetzung mit kontroversen fachlichen Themen sich hier zeigt. Dies verwundert umso mehr, da die mitveranstaltende Bundesfachstelle Linke Militanz explizit zu inhaltlicher, auch kontroverser Diskussion auffordert: „Wir ermutigen ausdrücklich dazu, das Gespräch mit uns zu suchen, d.h., Rückfragen, Kritik, Irritationen und Missmut direkt an uns zu richten.“5
Ebenso irritierend ist, dass die Ergebnisse der Umfragen zum Konfliktpotential aufgrund rechtsradikaler sowie fundamentaler, konfrontativer islamischer oder menschenfeindlicher Ausrichtung sowie einer linksradikalen Ausrichtung der Nutzerinnen von Hamburger Jugendeinrichtungen nicht veröffentlicht werden.6 Damit steht die Frage im Raum, zu welchem Zweck diese Daten erhoben werden.
Der IVOA und auch weiteren Fachpersonen aus Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit ist damit nicht nur die Möglichkeit einer fachlich interessierten und kritischen Teilnahme genommen. Auch für den weiteren fachlichen Diskurs fehlt durch Nichtteilnahme und Nichtveröffentlichung der Umfrageergebnisse die Grundlage. Zugleich kann von noch angemeldeten Fachpersonen nicht erwartet werden, dass sie unter diesen Voraussetzungen an der Online-Fachveranstaltung am 3. Februar teilnehmen. Dies widerspräche den Grundlagen einer fachlichen Verständigung in demokratischen Strukturen. Wir fordern den Senat erneut auf, sich den wirklich drängenden, hier aufgezeigten Themen gemeinsam mit den Fachkräften der Offenen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien und Akteurinnen aus der Wissenschaft Sozialer Arbeit zu widmen und der Perspektive der Betroffenen, der Fachkräfte wie der Adressat*innen, Raum zu geben.
Fachgruppe Sozial-, Kinder- und Jugendhilfe ver.di Hamburg
Lea Degener (lealena.degener@verdi.de)
Interessenvertretung Offene Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und ihre Familien
Pressekontakt: 0157/306 363 66 (Svenja Fischbach)
Verband Kinder- und Jugendarbeit Hamburg e.V.
Der Vorstand (Geschäftsstelle: info@vkjhh.de)
Hier die gemeinsame Stellungnahme als PDF
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1 Hagen Gersie, taz vom 29.01.2021. URL: https://taz.de/Archiv-Suche/!5743537&s=linke
%2Bmilitanz&SuchRahmen=Print/ (30.01.2021)
2 IVOA: UrL: https://www.entschlossen-offen.de/2021/01/28/entschlossen-offene-arbeit-extrem-wichtighamburger-
sozialbehoerde-richtet-ihren-blick-in-zeiten-rechten-terrors-nach-links/ (31.01.2021)
3 HBgR: Stellungnahme: Für unabhängige Kinder-und Jugendarbeit und gegen Diskreditierung des Antifaschismus. URL: https://www.keine-stimme-den-nazis.org/images/PDF_2021/stellungnahme_antifaschismus.pdf (31.01.2021)
FG SKJ ver.di HH: TITEL URL: https://bund-laender-hamburg.verdi.de/ueber-uns/sozial-kinder-jugenhilfe/++co++ceae3770-6466-11eb-9d8c-001a4a160116 (01.02.2021)
BAM!: „Entschlossen offen“: BAM! Bildung am Millerntor unterzeichnet Stellungnahme URL:
https://www.fcstpauli-museum.de/blog/2021/01/28/entschlossen-offen-bam-bildung-am-millerntorunterzeichnet-stellungnahme/ (31.01.2021)
4 Hagen Gersie, taz vom 29.01.2021, URL: https://taz.de/Archiv-Suche/!5743537&s=linke
%2Bmilitanz&SuchRahmen=Print/ (30.01.2021) 5 Bundesfachstelle Linke Militanz: Erklärung Bundesfachstelle. URL: http://www.linke-militanz.de/erklaerungbundesfachstelle-
vorwuerfe/ (30.01.2021)
6 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Deniz Celik und Sabine Boeddinghaus (DIE LINKE) vom
12.01.2021 und Antwort des Senats, Drucksache 22/ 2812, S. 5
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